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              Persönliche 
                Befreiung und politische Aktion  
              Gestalttherapie 
                und Anarchismus  
                
              
                
                  
                    
                      Die 
                        fünf Freiheiten  
                      Sehen 
                        und Hören -  
                      was 
                        da ist, anstatt was da sein sollte oder da sein wird. 
                         
                      Sagen 
                        -  
                      was 
                        du fühlst und denkst anstatt zu sagen, was du sagen sollst. 
                         
                      Fühlen 
                        -  
                      was 
                        du fühlst anstatt zu fühlen, was du fühlen sollst.  
                      Sagen 
                        und fordern -  
                      das 
                        was du willst, anstatt immer auf Erlaubnis zu warten. 
                      Etwas 
                        riskieren -  
                      in 
                        eigener Verantwortung, anstatt immer nur auf Sicherheit 
                        bedacht zu sein und das Boot nicht zum Schaukeln zu bringen. 
                          
                     
                    
                   
                 
               
              "Wir 
                müssen uns von unseren Neurosen und inneren Zwängen befreien, 
                um eine freie und sozial gerechte Gesellschaft aufbauen zu können." 
                 
              "Wir 
                müssen durch politische Aktionen gesellschaftliche Zwangsstrukturen 
                beseitigen, damit Menschen in Freiheit leben können."  
              Zwei 
                Thesen - zwei Welten: die Welt der "Psychos" und die Welt der 
                "Politik". Wieweit sind sie von einander entfernt und wo liegen 
                ihre Wahrheiten? Gibt es eine gemeinsame Schnittmenge und worin 
                könnte sie bestehen?  
                
              Was 
                ist Gestalttherapie?  
              Ausgangspunkte: 
                Die Gestalttherapie ist ein Verfahren der humanistischen Psychologie 
                und versteht sich als ein Bestandteil der humanistischen Bewegung. 
                Die Grundlagen der Gestalttherapie wurden in den 4Oer Jahren in 
                den USA von dem Psychoanalytikerehepaar Fritz und Lore Perls und 
                von Paul Goodman geschaffen und seitdem von vielen Menschen in 
                verschiedene Richtungen weiterentwickelt. Obwohl die Gestalttherapie 
                heute meist mit dem Namen Fritz Perls in Verbindung gebracht wird, 
                sollte der Einfluß von Lore Perls und Paul Goodman, der Schriftsteller, 
                Psychologe, Alternativpädagoge und Philosoph war, auf die Entwicklung 
                der Gestalttherapie nicht unterschätzt werden. Gerade die anarchistische 
                und gesellschaftskritische Seite der Gestalttherapie ist auf ihn 
                und Lore Perls zurückzuführen. Sie sahen die Gestalttherapie - 
                "die rebellische Kraft" - als einen Ansatz zur Förderung des gesellschaftlichen 
                Engagements. Aber auch Fritz Perls hatte zeitlebens gesellschaftskritische 
                und nonkonformistische Positionen vertreten; die Realisierung 
                des Gestalt-Kibbuz am Lake Cowichan ist sicher auch auf die Faszination 
                von den Ideen Gustav Landauers zurückzuführen, dessen" Aufruf 
                zum Sozialismus" aus dem Jahr 1909 eine Mittelposition zwischen 
                Individualismus und Kollektivismus einnimmt (1). Die Wurzeln des 
                Gestaltansatzes sind sehr unterschiedlich und vielfältig. Die 
                Psychoanalyse ist sicher eine der wichtigsten Quellen, aber viele 
                Gestaltkonzepte sind auch als Antithese zur Psychoanalyse und 
                über Anregungen durch Wilhelm Reichs "Charakteranalytische Arbeit" 
                entwickelt worden. Die Ideen der Alternativbewegung, repräsentiert 
                durch Paul Goodman, betonen die Relevanz des gesellschaftlichen 
                Kontexts und führen 1969 zur Gründung eines Gestalt-Kibbuz. Die 
                Bedeutung des "Hier und Jetzt" und der zentralen Rolle der Bewußtheit 
                (awareness) wurde für Perls durch die Begegnung mit dem Zen-Buddhismus 
                noch intensiviert. Bei der Entwicklung der theoretischen Hintergrundkonzepte 
                haben verschiedene philosophische Grundrichtungen Pate gestanden: 
                für Perls sind da vor allem Existentialismus und Phänomenologie 
                (Buber, Husserl, Marcel, Friedländer, Tillich) zu nennen, für 
                Goodman waren u.a. die Aufklärung (Kant), der Anarchismus (vor 
                allem Kropotkin) und der Pragmatismus (J. Dewey's "learning by 
                doing") relevant. Die Gestaltpsychologie (Wertheimer, Köhler, 
                Lewin) die sich hauptsächlich mit Experimenten zur Wahrnehmung 
                beschäftigt, hat eine Reihe wichtiger Erkenntnisse und Gestalt-Gesetze 
                geliefert, wie z.B. das Prinzip der Ganzheitlichkeit, das Figur-Hintergrund-Prinzip 
                und die Tendenz zur Bildung guter Gestalten(2).  
                
              Zum 
                Menschenbild in der Gestalttherapie  
              Der 
                Mensch wird gesehen als ein personales System, ein ganzheitliches 
                Leib-Seele-Geist-Wesen. Er ist sowohl eigenverantwortlich handelndes 
                Subjekt als auch durch den sozioökologischen Kontext determiniert. 
                Der Mensch ist durch Integrationsfähigkeit, Kohärenz und Kreativität 
                gekennzeichnet und durch das Streben nach Selbstregulation und 
                Selbstverwirklichung motiviert. Auf diese Fähigkeit gründet sich 
                seine Freiheit zur Wahl und zu verantwortlichem Handeln. Jede 
                Person hat das Recht auf eigene Ansichten und eigene Handlungen 
                und kann die daraus resultierende Verantwortung übernehmen. Auch 
                wer entscheidet, sich zu isolieren oder eine nicht zufriedenstellende 
                Situation nicht zu verändern, trifft eine Wahl, mit der er oder 
                sie den eigenen Wert und die eigene Würde festigt. (Von therapiekritischer 
                Seite wird diese Weite der Entscheidungsfreiheit vielleicht zum 
                Anlaß genommen, Psychotherapie als - zumindest potentiell - systemimmanente 
                Kraft zu sehen.) Der Mensch ist auf seine Mitmenschen bezogen 
                und in die Gesellschaft eingebettet. Wachstum ist damit nicht 
                allein private Angelegenheit, sondern auch ein kollektives Geschehen. 
                Die Übernahme persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung 
                steht im Kontext der dialogischen Situation.  
                
              Die 
                Ziele der Gestaltarbeit  
               
                 
                  "Gestalttherapie 
                    ist eine der rebellischen, humanistischen und existentialistischen 
                    Kräfte in der Psychologie, die versuchen, die Lawine von Selbstbetrug 
                    und Selbstzerstörung in einigen Mitgliedern dieser Gesellschaft 
                    aufzuhalten. Unser Ziel als Psychotherapeuten ist es, die 
                    Möglichkeiten des Menschen durch den Prozeß der Integration 
                    zu erweitern. Wir tun dies, indem wir die ursprünglichen Interessen, 
                    Wünsche und Bedürfnisse des Individuums unterstützen." (F. 
                    Perls) 
                 
               
               
                Lore & Fritz Perls und Paul Goodman sahen ihre Bemühungen um die 
                Entwicklung einer befreienden Psychotherapie als Auswirkung ihrer 
                Gesellschafts- und Herrschaftskritik. Ihr Ziel war der Aufbau 
                einer sozial gerechten Gesellschaft freier Menschen. Aktuell werden 
                die Globalziele der Gestaltarbeit von Petzold (dem Gründer des 
                Fritz Perls-Instituts, dem in Deutschland wohl renommiertesten 
                Ausbildungsinstitut für GestalttherapeutInnen) folgendermaßen 
                formuliert:  
              
                -  
                  Humanisierung der allgemeinen Lebensbedingungen,
 
                -  
                  Gewährleistung der Integrität von Individuen, Gruppen und Lebensräumen, 
                  
 
                - Gewährleistung 
                  von Selbstregulation und Selbstverwirklichung im Lebenskontext 
                  und die 
 
                -  
                  Gewährleistung bzw. Entwicklung von Fähigkeiten zur intersubjektiven 
                  Begegnung.
 
               
               
                Im konkreten Handeln gilt die Maxime "Der Weg ist 
                das Ziel". Es geht um Wachstum, Entwicklung eigener Potentiale, 
                Befreiung von zwanghaften Verhaltensmustern zugunsten von mehr 
                Wahlfreiheit und - um noch einmal mit Paul Goodman zu sprechen 
                - zur Befähigung zu sozialem Engagement. Klientln und Therapeutln 
                machen sich gemeinsam auf eine Reise: die Richtung ist bekannt, 
                aber nicht das Ziel. Emanzipation bezeichnet ebensowenig wie Selbstverwirklichung 
                und Aufhebung von Entfremdung einen Zustand, sondern einen nie 
                endenden Prozeß. Natürlich hat die Gestalt auch eigene Vorstellungen, 
                was auf diesem Weg hilfreich und was eher abträglich ist. Bedeutsam 
                sind zum Beispiel die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit, die 
                Förderung der eigenen Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit. 
                Dabei gibt es kein vorgefertigtes Lernziel und kein einengendes 
                Programm, sondern gearbeitet wird an dem, was "im Vordergrund" 
                steht, d.h. was im Augenblick aktuell ist. Respekt und eine stets 
                wohlwollende, manchmal unterstützende, manchmal eher konfrontierende 
                Haltung der professionellen "WegbegleiterInnen" bereiten eine 
                Atmosphäre, in der es leichter fällt, Altbekanntes loszulassen 
                und Neues zu wagen. Um Veränderungsprozesse in Gang zu setzen, 
                bedient sich die Gestalt verschiedener Methoden und Techniken: 
                Wahrnehmungs- und Imaginationsübungen, Traumarbeit, Rollenspiele, 
                Körperarbeit, Experimente, Arbeit mit kreativen Medien und Hausaufgaben. 
                Die Beziehung und der Kontakt zwischen Therapeutln und Klientln 
                haben in diesen Prozessen einen sehr wesentlichen Stellenwert. 
                 
                
              Selbstregulation 
                 
              Gestalttherapie 
                oder -beratung hat wenig damit zu tun, gute Ratschläge zu erteilen. 
                Das könnte schnell wieder zu einer hierarchischen Beziehung führen 
                oder die "Unmündigkeit" fortsetzen. Der Gestaltansatz baut eher 
                auf den angenommenen Selbstregulierungsmechanismus des Menschen. 
                Vergleichbares finde ich in grundlegenden Texten zur Graswurzelrevolution: 
                so steht in den Thesen zu Staatlichkeit und Anarchie, daß "die 
                Menschen geborene AnarchistInnen (sind), denen Unterordnung und 
                Ungerechtigkeit zuwider sind"(3). 
                 
              In 
                der Gestalt-Gruppenarbeit dient die Gruppe als Schutzraum und 
                als kritisches Korrektiv: der/die Einzelne erhält einerseits nicht-wertende 
                Rückmeldungen (Feedback), anhand derer die eigene Wahrnehmung 
                überprüft und entwickelt werden kann; außerdem wird in den "Sharing-Runden", 
                in denen alle TeilnehmerInnen die Möglichkeit haben mitzuteilen, 
                wie das dargestellte Problem oder Erleben auch sie persönlich 
                betrifft, die soziale Dimension von Problemen deutlich. So kann 
                der Gefahr der Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen, 
                wie z.B. die Festlegung auf Geschlechtsrollen, entgegengewirkt 
                werden.  
                
              Wahrnehmung 
                und Bewußtheit  
              Ein 
                zentrales Anliegen der Gestaltarbeit ist die Entwicklung von Wahrnehmung 
                und Bewußtheit. Da wir keine seelenlosen Meßinstrumente, sondern 
                handelnde Menschen sind, ist Wahrnehmen für uns kein bloß rezeptives 
                Speichern, sondern ein aktiver, selektierender Vorgang. Schon 
                Kant, dessen philosophisches Werk einen großen Einfluß auf Goodman 
                hatte, formulierte in seiner Kritik des naturalistischen Weltbildes, 
                dessen Ursache-Wirkung-Determinismus die Freiheit des Menschen 
                leugnet, daß die Ergebnisse der Wahrnehmungsleistung immer subjektiv 
                von der wahrnehmenden Person geprägt sind (4). Wir geben dem, 
                was wir wahrnehmen, eine Bedeutung, indem wir es an unseren Erfahrungswerten 
                messen und in unser jeweiliges Bezugssystem einordnen. Wir Menschen 
                reagieren also auf unsere Abbildung der Realität, nicht auf die 
                Realität selber.  
                
              "Die 
                Landkarte ist nicht das Gebiet"  
              Auch 
                für die politische Arbeit ist diese Tatsache insofern von Wichtigkeit, 
                als sich in diesem Licht vermeintlich 'objektive Tatsachen' zwangsläufig 
                relativieren. Faktoren wie kulturelle Prägung, Geschlechtszugehörigkeit 
                und Sozialisation wirken sich ebenso aus wie individuelle Biographie 
                und momentane Stimmungen. Dieser 'subjektiven Wahrnehmung' unterliegen 
                jedoch nicht nur Individuen, sondern unsere Erfahrungen mit Vorurteilen 
                und Feindbildern zeigen uns, daß massive Wahrnehmungsverzerrungen 
                auch kollektiv in Gruppen und erst recht in Nationen üblich sind. 
                 
                
              Privat 
                und /oder politisch?  
              Der 
                durch die Sozialen Bewegungen der 70er und 8Oer Jahre geprägte 
                Slogan "Das Private ist politisch" ist sicherlich vielen ein Begriff. 
                Besonders für die Graswurzelbewegung, die sich nie als Ein-Punkt-Bewegung 
                verstanden hat, sondern ein umfassendes, ganzheitliches Konzept 
                der Gesellschaftsveränderung verfolgt, hat dieser Satz seine Gültigkeit 
                behalten. Auch in der Gestaltung unserer politischen Gruppenarbeit 
                haben das Persönliche und individuelle Hintergründe - zumindest 
                dem Anspruch nach - immer ihren Platz gefunden. Doch wie sieht 
                es andererseits mit der Anerkennung und Berücksichtigung der politischen 
                Dimension in der "Therapie-Szene" aus? Hierzu zwei kurze Zitate 
                von der Gestalttherapeutin und -pädagogin Annedore Prengel:  
               
                "Jede, 
                  auch die therapeutische Art der Arbeit an einem menschlichen 
                  'Wesenszug' ist ein politischer Vorgang, denn es handelt sich 
                  immer um Arbeit an einem (wenn auch noch so winzigen) Element 
                  des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein von der 
                  Gesellschaft isoliertes, unpolitisches menschliches Wesen ist 
                  damit ebensowenig vorstellbar wie unpolitische Lebensbereiche." 
                   
                "Die 
                  dialektische Wechselbewegung der Prägung durch den Niederschlag 
                  des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse in einer konkreten 
                  Lebensgeschichte einerseits und des aktiven, handelnden Einwirkens 
                  auf die Umwelt andererseits bestimmen den Schauplatz der Gestalttherapie." 
                  (5)  
               
              Astrid 
                Schreyögg untersuchte im Hinblick auf die Entwicklung eines integrativen 
                Supervisionskonzeptes Gestalttherapie und Psychodrama und schreibt: 
                "So geht es in der Gestalttherapie nicht nur darum, den Menschen 
                aus ungünstig determinierenden Sozialbedingungen zu befreien, 
                sondern auch aus institutionalisierten Systemen, wie Systemen 
                überhaupt." (6)  
              Paul 
                Goodman sah das Individuum mit all seinen Potentialen im Wesentlichen 
                als einen Teil der Gesellschaft, die ihn prägt, die er aber wiederum 
                als handelndes Subjekt beeinflußt. Als er erkannte, daß durch 
                die "sozialtechnisch hergestellte Zwangskonformität" eine rein 
                politische Auseinandersetzung nicht ausreicht, wandte er sich 
                der Psychologie zu. "Sie sollte ihm helfen, die Mechanismen zu 
                erklären, wie und warum die Menschen sich den herrschenden Verhältnissen 
                unterwerfen, und sollte Mittel anregen, die zur Befreiung führen." 
                (7) 
                 
              Die 
                gesellschaftspolitische Dimension des Gestaltansatz liegt auf 
                drei verschiedenen Ebenen:  
              
                - Gestaltarbeit 
                  ist ganzheitlich, d.h. sie versucht alle Ebenen des Menschseins 
                  zu erfassen und zu berücksichtigen. Erich Fromm nannte dies 
                  das Prinzip der Totalität. In Form der prozessualen Diagnostik 
                  berücksichtigt der Gestaltansatz neben der Beobachtung des Körpers, 
                  der Emotionalität, des kognitiven und des Wertebereichs auch 
                  die sozialen Fähigkeiten und den gesamten Lebenskontext, der 
                  sich von Beruf und gesellschaftlichen Rollen bis hin zu ökonomischer 
                  Situation und politischen und geistesgeschichtlichen Strömungen 
                  erstreckt. Diese Ebenen, die in der prozessualen Diagnostik 
                  aus dem Hintergrund hervortreten und "Gestalt" annehmen, werden 
                  dann auch in den therapeutischen Interventionen relevant. 
 
                - Gestaltarbeit, 
                  die persönliche Veränderung zum Gegenstand hat, ist per se politisch: 
                  Wenn sich ein Teil des Ganzen verändert, verändert sich zwangsläufig 
                  die Dynamik innerhalb des Systems und damit auch das Ganze. 
                  
 
                - Die 
                  Globalziele der Gestaltarbeit zielen darauf ab, den Menschen 
                  zur sozialen Aktion zu befähigen. 
 
               
              Wenn 
                wir demnach die politische Dimension von Therapie als gegeben 
                ansehen, wenn wir annehmen, daß Psychotherapie Auswirkungen auf 
                das gesellschaftliche Gesamtsystem hat, muß die Frage vielmehr 
                lauten: Ergänzt und unterstützt der individuelle therapeutische 
                Ansatz die Bemühungen um radikale Gesellschaftsveränderung in 
                Richtung auf eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, oder 
                erhöht er nur die individuelle Anpassungsfähigkeit an die gegebenen 
                Rahmenbedingungen und die Leistungsfähigkeit innerhalb des gesellschaftlichen 
                Rahmens und wirkt damit systemstabilisierend? Die bestehende Kritik 
                an der Psychotherapie kann für mich entweder Orientierung und 
                Anlaß zur Korrektur bedeuten, oder aber auch Bestärkung, je nachdem 
                von wem sie geäußert wird.  
                
              Zur 
                Kritik an den Humanistischen Therapien  
              Die 
                Kritik - nicht nur an der Gestalttherapie, sondern an dem gesamten 
                Spektrum der Humanistischen Therapien - kommt im Wesentlichen 
                aus drei verschiedenen Richtungen: Zum einen ist da die Kritik 
                der bürgerlich-konservativen Kreise, denn sie fürchten eine entschiedene 
                Veränderung des Status Quo, die die Menschen weniger leicht regierbar 
                macht, die Privilegien der Eliten angreift und Ruhe und Ordnung 
                im Staat gefährdet. Anders ausgerichtet ist die Kritik aus politisch-dogmatischen 
                Richtungen, z.B. dem Marxismus: hier ist die Veränderung zwar 
                gewollt, aber die Richtung dafür geben hier die Partei oder andere 
                hierarchisch organisierte Gruppierungen vor. Dogmatische PolitikerInnen 
                haben natürlich kein Interesse an emanzipatorischen Prozessen, 
                die sie nicht kontrollieren können und die Eigenverantwortung 
                und Selbstbestimmung zum Ziel haben. Kritik aus diesen beiden 
                Richtungen sollten wir bewußt hören - und letztlich als Kompliment 
                werten. Kritisieren sie uns doch eben wegen der Dinge, die wir 
                bewußt anstreben: Infragestellung von Herrschaft, persönliche 
                Freiheit und Selbstbestimmung.  
              Daneben 
                kommt jedoch auch Kritik aus den eigenen Reihen, aus den Sozialen 
                Bewegungen, und deren Kritik sollten sich TherapeutInnen und Pädagoglnnen 
                stellen, sofern sie ihre Arbeit als Unterstützung von Emanzipationsprozessen 
                verstehen. Therapie und Pädagogik sind oft als Herrschaftsinstrumente 
                mißbraucht worden und werden es auch noch heute. Sie stellen potente 
                Instrumente zur Manipulation von Menschen dar, und die Herrschenden 
                bedienen sich ihrer natürlich lieber als der offenen, brutalen 
                Repression. Psychotherapie ist ein Instrument, das sowohl systemstabilisierend 
                als auch systemverändernd eingesetzt werden kann. Es ist daher 
                geboten, kritisch zu prüfen, wie Therapie, Beratung oder Pädagogik 
                verstanden werden und wem sie im konkreten Fall dienen: Zielen 
                sie auf Funktionalisierung, Leistungsorientierung und Anpassung 
                oder auf Emanzipation und Selbstverwirklichung? 
                
              Herrschaft 
                und Befreiung  
               
                 
                   
                     
                      Einem 
                        Despoten ins Album  
                      Hüte 
                        dich vor den Schwankenden; eines Tages wissen sie, was 
                        sie noch nicht wahrhaben wollen. 
                       
                        Nimm dich in acht vor den Stotterern, vor Juan dem Lispler, 
                        vor Pedro dem Stummen; eines Tages entdecken sie ihre 
                        starke Stimme.  
                      Mißtraue 
                        den Furchtsamen, denen man das Maul stopfte: eines Tages 
                        stehen sie nicht auf, wenn du eintrittst.  
                      (Heberto 
                        Padilla)  
                        
                     
                   
                 
               
              Wenn 
                es darum geht, die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu 
                beenden, müssen wir uns der Dynamiken bewußt werden, die der Herrschaft 
                zugrunde liegen. In den "Thesen über Staatlichkeit und Anarchie 
                heute" ist einer der wesentlichen Wirkmechanismen der Herrschaftssicherung 
                des Staates beschrieben, der übrigens ebenso gut in kleineren 
                Systemen wie Familien, Betrieben, Parteien u.a. angewandt wird 
                und funktioniert:  
               
                "Gerade 
                  in den westlichen Industriestaaten organisiert sich Herrschaft 
                  über den positiven Bezug der Beherrschten auf das System. Staatliche 
                  Strategien sind dort im wesentlichen nicht auf repressive Unterdrückung 
                  angelegt, sondern auf Integration: Identitätsbildung über Teilnahme 
                  am Konsum, Aufspaltung von Interessenlagen und Vereinzelung 
                  in der Gesellschaft, Normierung von Bedürfnissen und deren bürokratische 
                  Verwaltung sowie das Versprechen auf demokratische Beteiligung 
                  ...". (8) 
               
               
                Identität und Selbstwert werden durch gesellschaftliche 
                Bedingungen geprägt und oft gezielt manipuliert. Das bedeutet 
                aber auch, daß wir sie selbst durch Reflexion, Bewußtwerdungsprozesse 
                und daraus folgenden Entscheidungen immer wieder verändern können. 
                Soziale Bewegungen können diese Emanzipationsprozesse unterstützen, 
                indem sie eine Gegenkultur aufbauen und Bezugssysteme mit neuen 
                Werten und Umgangsformen schaffen, die der Orientierung bei einer 
                Neu-Entscheidung der angesprochenen Menschen dienen. In unserem 
                Wirken gegen Zwang, Hierarchie und Herrschaft können wir zwei 
                verschiedene Ansatzpunkte und Bewegungsrichtungen unterscheiden: 
                zum einen gibt es den Prozeß der Befreiung, der am Individuum 
                ansetzt (was kollektives Handeln nicht ausschließt!) und in Richtung 
                Ausbruch aus Zwangssystemen und Entwicklung von mehr Wahlfreiheit 
                und Entscheidungskompetenz geht; zum anderen gibt es den gesellschaftlichen 
                Kampf gegen Herrschaftsstrukturen, die soziale und meist kollektive 
                Aktion, die auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen 
                zielt. Beide Ansätze ergänzen sich oft und haben in der Praxis 
                fließende Übergänge. Zur Verdeutlichung möchte ich sie dennoch 
                hier getrennt behandeln.  
                
              Persönliche 
                Befreiung  
              Ich 
                will hier im wesentlichen den Prozeß der inneren, d.h. psychischen 
                Befreiung ansprechen, da ich der oben angeführten Analyse zustimme, 
                daß Herrschaft sich in unserer Gesellschaft hauptsächlich auf 
                die Integration der Menschen in hierarchische Strukturen stützt 
                und massive Repression erst einsetzt, wenn es zu offener Verweigerung 
                oder direkten Aktionen kommt.  
               
                "Die 
                  Identifikation mit der Macht ist für die machtlose Mittelklasse 
                  ebenfalls typisch. Sie identifizieren sich nicht mit Brutalität, 
                  Führerfiguren oder Reichtum, sondern mit dem effektiven System 
                  an sich, das sie ohnmächtig macht. Auch hier können wir den 
                  scharfen Gegensatz zwischen denen beobachten, die politisch 
                  nicht resigniert haben und denen, die aufgegeben haben." 
                  (Paul Goodman)  
               
              Der 
                stärkste Garant der Systemstabilität liegt in der Identifikation 
                mit den Zwangsstrukturen, im Glauben an ihre Notwendigkeit oder 
                ihren Erfolg, und in der Angst, über Alternativen überhaupt nachzudenken. 
                Befreiung von Integration als Herrschaftsinstrument heißt dann, 
                daß wir die durch Manipulation und Gewohnheit erzeugte Schere 
                im Kopf, d.h. Ansprüche, Normen, Werte und Formen, die nicht unsere 
                eigenen sind, identifizieren und selbst beiseite legen. Die Gestalttherapie 
                spricht in diesen Fällen von Introjektion, d.h. von der Installierung 
                nicht-assimilierter 'Fremdkörper' in unserer Persönlichkeit. Interessant 
                ist dabei, daß davon ausgegangen wird, daß wir für die Introjektion 
                mitverantwortlich sind, weil wir sie zugelassen haben. Es geht 
                bei dieser Sichtweise nicht um die Frage, wem eine 'Schuld' zuzuschreiben 
                ist. Die Entscheidung, Introjektionen zuzulassen, kann ja für 
                den damaligen Zeitpunkt durchaus richtig gewesen sein. Als kleines 
                Kind kann es z.B. eine vernünftige Entscheidung sein, Werte und 
                Normen ("Das tut man nicht!"), die von den übermächtigen Eltern 
                aufgezwungen werden, ohne Widerstand hinzunehmen und 'zu schlucken', 
                da das Kind von den Eltern abhängig ist. Als erwachsene Person 
                können wir jedoch eine bewußte Neu-Entscheidung treffen und uns 
                von dem Introjekt ("Das macht man so!", "Das muß so sein!", "Du 
                sollst nicht ...") befreien. Wenn wir die Verantwortung für die 
                Introjektion übernehmen, erhalten wir gleichzeitig damit auch 
                die Chance, uns wieder anders zu entscheiden, wenn die Werte und 
                Konzepte unserer Person nicht dienlich sind. Im Prozeß der inneren 
                Befreiung oder auch Emanzipation verändere ich mich: meine Wahrnehmung 
                der Umwelt und meiner selbst, mein Verhalten und damit auch die 
                Beziehung zu meinen Mitmenschen. Ich erweitere meine Wahlfreiheit 
                und Entscheidungskompetenz.  
                
              Politische 
                Aktion als Kampf gegen Herrschaft  
              Der 
                Kampf gegen Herrschaft in Form von direkten, gewaltfreien Aktionen 
                zielt auf die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen. 
                Anders als bei der inneren Befreiung, bei der ich mich und meine 
                Persönlichkeit, und damit meine individuellen Handlungsmöglichkeiten 
                verändere, geht es hier darum, die äußeren Bedingungen meines 
                Daseins zu verändern. Ich gehe in Kontakt mit meiner Umwelt - 
                manchmal auch in Konfrontation - und setzte meinen Willen gegen 
                den einer anderen Person oder Institution. Es geht nicht mehr 
                allein darum, daß ich mir meiner Positionen bewußt bin und mich 
                authentisch verhalte; hier geht es um Einflußnahme, um Verhandlung 
                und aktive Mitgestaltung gesellschaftlicher Bedingungen. Der Übergang 
                von 'Innen' (Bewußtsein) nach 'Außen' (Aktion), von der Selbstveränderung 
                zur Politik vollzieht sich an dieser Linie. 
               
                Gelungene Therapie ist, wenn sie aufdeckend arbeitet, immer befreiend. 
                Sie befreit zur Aktion, zur eigenverantwortlichen Gestaltung der 
                Lebenswelt und zur offenen Auseinandersetzung mit Partnerlnnen 
                oder politischen Gegnerlnnen. Denn handelndes Subjekt zu werden, 
                heißt auch, sich seiner eigenen Macht bewußt zu werden und Willen 
                in die Tat umzusetzen. Gerhard Portele setzt sich in seinem Buch 
                "Autonomie, Macht, Liebe" mit einer provozierenden These der chilenischen 
                Neurophilosophen Maturana und Varela auseinander: "Unterwerfung 
                ist die Ursache der Macht". Normalerweise sehen wir die Kausalität 
                gerne andersherum: Macht sei die Ursache der Unterwerfung. Wir 
                sehen uns als Opfer und nicht als Täterln. Abgesehen davon, daß 
                wir damit vom moralischen Standpunkt aus gesehen vielleicht besser 
                dastehen, ist die letztere Ansicht recht trostlos: mit uns wird 
                gemacht, wir sind Objekt des Geschehens und von der Einsicht oder 
                Gnade der Herrschenden abhängig. Anders bei der ersten Sichtweise: 
                hier teilen wir zwar die Last der Verantwortung für die Situation, 
                aber damit auch die Möglichkeit der aktiven Veränderung. Wir verstehen 
                uns als autonom handelnde Subjekte, die die Bedingungen unseres 
                Daseins mitgestalten. In der Gestaltarbeit ist daher ein wichtiger 
                Schritt die Erkenntnis, daß der Zwang, dem wir uns unterworfen 
                fühlen, und die Ausweglosigkeit der Situation, in die wir uns 
                gestellt sehen, aufgebrochen werden können. Diese unangenehme 
                Wahrheit zu sehen, sie nicht länger zu verdrängen, sondern zuzulassen, 
                ist der erste Schritt zur Veränderung. Indem wir umgehen "mit 
                dem was ist", indem wir eigenverantwortlich handelnde Subjekte 
                bleiben oder werden, verändern wir die Dynamik der Situation und 
                damit die Grundlagen für die Veränderung der gesellschaftlichen 
                Bedingungen. Herrschaft und Unterwerfung sind die beiden Seiten 
                einer komplementären Beziehung, denn: ohne Unterwerfung keine 
                Herrschaft (9).  
              Hier 
                drängt sich selbstverständlich die Frage auf, warum sollten sich 
                Menschen gegen Befreiung und für Unterwerfung entscheiden? Warum 
                sollten sie Wachstum und Weiterentwicklung vermeiden wollen? Abgesehen 
                von struktureller Gewalt und gezielter Manipulation hat der Widerstand 
                gegen Veränderung - auch in positive Richtung - verschiedene psychologische 
                Gründe. Ein wichtiger Faktor ist Angst: Angst vor dem Neuen und 
                vor Veränderung, Angst, das nicht zu bekommen, was wir uns wünschen, 
                oder die Angst, das zu verlieren, was wir behalten wollen. Die 
                Bindung an das Alte, an das Gewohnte ist stark; die Angst vor 
                der Unsicherheit - nicht zu wissen, was sein wird, wenn ich das 
                Alte loslasse - wiegt oft so schwer, daß Menschen Veränderungen 
                selbst dann nicht wagen, wenn sie sich "objektiv" gesehen fast 
                nur verbessern könnten. So werden auch Phänomene verständlicher, 
                warum z.B. unterdrückte Menschen sich oft so schwer tun, aus der 
                Situation auszubrechen und woanders einen Neuanfang zu wagen. 
                Ein weiterer Grund, die Dinge beim Alten zu lassen, ist unsere 
                Bequemlichkeit oder, neutraler ausgedrückt, der Energieaufwand, 
                der benötigt wird, "um sich zu bewegen". Es ist eine Freude, Kindern, 
                denen unser pervertiertes ökonomisches Denken ("Lohnt sich der 
                Aufwand?") noch fremd ist, bei ihrem absichtslosen Tun oder beim 
                Experimentieren zuzuschauen. Für sie ist die Bewegung, d.h. die 
                Veränderung ihres Standpunktes, noch Selbstzweck, sie tun es oft 
                aus Freude an der Bewegung selbst. Und drittens hindert uns auch 
                noch der Schmerz, der untrennbar mit Wachstum verbunden ist. Wachstumsprozesse 
                gehen immer einher mit der Zerstörung unseres alten Selbst- und 
                Weltbildes und wir tendieren oft dazu, die damit verbundenen Konflikte 
                zu lösen, indem wir durch Schmerzmittel, Drogen, Konsum - oder 
                auch oberflächliche Therapie - ihre Symptome beseitigen. Bereitschaft 
                zur Veränderung schließt auch die Bereitschaft zur Annahme von 
                Leiden ein. Dies soll kein Plädoyer für eine Leidensideologie 
                sein, aber der Schmerz, die Trennung vom Alten und Gewohnten, 
                ist eine Phase, die wir durchleben müssen, um für das Neue offen 
                zu werden.  
                
              Forderungen 
                an Gestaltarbeit und politisches Handeln  
              Grundsätzlich 
                halte ich es für erforderlich, daß alle in Pädagogik, Therapie 
                und Beratung Tätigen sich kritisch mit ihrer Macht - und noch 
                mehr mit dem potentiellen Machtmißbrauch - auseinandersetzen und 
                eine besondere Sensibilität bezüglich der Entstehung von Hierarchien 
                und Herrschaftsstrukturen in ihrer Arbeit entwickeln. Für die 
                praktische Gestaltarbeit halte ich es für wichtig, den Systemansatz 
                konsequent weiterzudenken. Menschen werden als Leib-Seele-Geist-System 
                wahrgenommen und nicht als SymptomträgerInnen isoliert und "repariert", 
                sondern - wie in der Gestalt-Familientherapie - als Teil eines 
                sozialen Systems gesehen. Diese Sicht ist auch auf den makropolitischen 
                Raum auszudehnen, was die Beteiligung an der Entwicklung von Konzepten 
                kreativer Gesellschaftsveränderung zur Folge haben wird. Wir dürfen 
                nicht der Gefahr erliegen, gesellschaftliche Probleme und Konflikte 
                zu psychologisieren und individualisieren, nur weil wir auf dieser 
                Ebene leichter damit umgehen können. Eng damit verbunden ist die 
                Forderung, daß sich GestalttherapeutInnen nicht nur auf individuelle 
                therapeutische Prozesse konzentrieren, sondern sich auch politisch 
                engagieren, um die gesellschaftlichen Bedingungen für Emanzipationsprozesse 
                zu verändern, d.h. zum Beispiel Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse 
                angreifen. Goodman übersetzt die anarchistische Maxime der Freiwilligkeit 
                in seine aristotelische Handlungstheorie: "Pflicht sei es, die 
                eigene Befriedigung als Möglichkeit sicherzustellen"(11). Er fordert 
                damit auf zur aktiven Gestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen, 
                zur Beseitigung der Ursachen individueller Unzufriedenheit und 
                sozialer Mißstände.  
              Eine 
                Umfrage unter GestalttherapeutInnen aus dem Jahr 1984 hat ergeben, 
                daß dieser Bereich der "politischen Intervention zur Vertretung 
                und Sicherung von Ansprüchen im gesellschaftlichen Kontext" noch 
                relativ unterrepräsentiert ist, jedoch erfreulicherweise eine 
                steigende Tendenz aufweist (12). Eine andere Untersuchung ergab, 
                daß zwar ein hoher Anteil der Befragten die Bedeutung und Wirksamkeit 
                des soziokulturellen Kontextes wahrnimmt, aber nur etwa die Hälfte 
                dieses Bewußtsein auch in konkretes politisches Handeln umsetzt 
                (13). Einer der erfolgversprechendsten Ansätze dafür liegt m.E. 
                im Aufbau von Selbsthilfegruppen, da in ihnen am ehesten Veränderungen 
                im herrschaftsfreien Raum möglich sind. 
               
                Auch in Bezug auf unsere politische Arbeit halte 
                ich mehrere Punkte für beachtenswert: wir sollten uns parallel 
                zu unserem sozialen Engagement bewußt mehr Raum und Zeit für die 
                individuelle Veränderung und Persönlichkeitsentwicklung nehmen, 
                ist doch unsere Person das wichtigste Instrument unseres Wirkens, 
                sowohl im Privatleben wie auch in der Politik. Unsere anerzogene 
                Gehemmtheit gegenüber aggressiven Impulsen und Aggressionen und 
                unsere Tendenz zur Konfliktvermeidung nimmt uns viel von unserem 
                kreativen Potential und der Energie, die wir für unser gesellschaftliches 
                Engagement so nötig brauchen. Wenn wir beginnen, diese Potentiale 
                freizusetzen, werden wir nicht nur lebendiger und glücklicher 
                werden, sondern auch unsere politische Effektivität steigern können. 
                Und letztendlich sollten wir in unseren politischen Gruppen sehr 
                sensibel mit der Formulierung unserer Werte, Normen und 'Wahrheiten' 
                umgehen, da diese zwar eine Orientierung bieten können und sollen, 
                aber wir müssen gewahr sein, daß die Installierung neuer Ansprüche 
                und moralischer Instanzen die Gefahr birgt, daß Menschen wieder 
                unter großen Druck geraten und in neue Konformität gedrängt werden. 
                "Die Revolution muß die festgefahrene Ordnung aufbrechen und nicht 
                mit neuen Regeln die Errungenschaften der Befreiung zerstören"(14). 
                Es ist nicht selten zu beobachten, wie auch in sog. Alternativkulturen 
                neue Sachzwänge aufgebaut werden, die sich der Freiheit und Selbstbestimmung 
                der beteiligten Menschen in den Weg stellen.  
              Paul 
                Goodman richtete seine Theorie und Praxis auf den Aufbau kleiner 
                Gemeinschaften und den Abbau von Staatlichkeit und bürokratischen 
                Makrosystemen. Er vertrat jedoch auch die Ansicht, daß gesellschaftliche 
                Veränderung nicht nur auf der Makroebene vollzogen werden könne, 
                sondern gleichzeitig individuelle Veränderung erfordere. Individuum 
                und Gesellschaft stehen in einer dialektischen Wechselbeziehung. 
                Um Entfremdung und Herrschaft zu beseitigen, müssen sich sowohl 
                die entfremdeten Menschen verändern und auch die entfremdete, 
                hierarchische Gesellschaft. Nur dem entfremdeten Individuum bei 
                Befreiungsprozessen beizustehen ist sinnlos, weil die Gesellschaft 
                es wieder unfrei machen wird. Nur die entfremdete Gesellschaft 
                zu verändern ist sinnlos, weil entfremdete Menschen neue Entfremdungs-und 
                Herrschaftsstrukturen errichten werden. Für mich sind daher die 
                Ansätze der Gestaltarbeit und der libertär-gewaltfreien sozialen 
                Bewegungen eine sinnvolle und notwendige Ergänzung. Beide gehen 
                von der grundsätzlichen Fähigkeit der Menschen zu Autonomie, Selbstorganisation 
                und freier Vereinbarung aus; beide lehnen Zwang, Hierarchie und 
                Herrschaftsverhältnisse ab, und sie verfolgen beide auf unterschiedlichen 
                Wegen das gleiche Ziel: den Aufbau einer sozial gerechten Gesellschaft 
                freier Menschen.  
              Abschließen 
                möchte ich mit einem Zitat von Heik Portele, einst Vorsitzender 
                der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie (DVG):  
               
                "Entweder 
                  wir sind als Gestalttherapeuten Anarchisten oder wir sind keine 
                  Gestalttherapeuten". (15) 
               
                
                
               
                Anmerkungen:  
              (1) 
                Einen guten Einstieg in die Gestalttherapie - auch bezüglich anarchistischer 
                und anderer philosophischer Hintergründe - bietet 
                der Artikel von H. Pelzold "Die Gestalttherapie von Fritz Perls, 
                Lore Perls und Paul Goodman, in Integrative Therapie 1-2/84.  
              (2) 
                Vgl. Rahm, D., Gestaltberatung, 1990, S. 163ff  
              (3) 
                Thesen über Staatlichkeit und Anarchie heute, GWR 125, Juni '88 
                 
              (4) 
                Vgl. Heiner Köchlin, Philosophie des freien Geistes, S. 95f  
              (5) 
                Prangel, A.: Gestaltpädagogik - Therapie, Politik und Selbsterkenntnis 
                in der Schule, S. 171  
              (6) 
                Schreyögg, A.: Supervision. Ein integratives Modell, 1991, S. 
                291  
              (7) 
                Blankertz, St: Gestaltkritik. Paul Goodmans Sozialpathologie in 
                Therapie und Schule, 1990, S. 23  
              (8) 
                Thesen über Staatlichkeit und Anarchie heute, GWR 125, Juni '88, 
                4. These.  
              (9) 
                Vgl. Portele, G.: Autonomie, Macht. Liebe. 1989, S. 193  
              (10) 
                Metzger, W.: Gestalttheorie im Exil, in: Die Psychologie des 20. 
                Jahrhunderts, 1976, S. 665  
              (11) 
                Blankertz, St.: Paul Goodmans Ethik und ihre Bedeutung für die 
                Gestalttherapie, In: Integrative Therapie 2-3/88, S. 180.  
              (12) 
                Heerkerens, H.P.: Aspekte der Berufstätigkeit von Gestalttherapeuten, 
                in: Integrative Therapie 1-2/84, S. 167.  
              (13) 
                Vgl. Buhl, E.: Wie "politisch" sind Gestalttherapeuten? Eine Untersuchung 
                zu "sozialer Kompetenz" und "sozialem Engagement", in: Integrative 
                Therapie 4/84, S.399.  
              (14) 
                Goodman, P.: Natur heilt, 1989, S. 293.  
              (15) 
                Portele, H.: Gestalttherapie und Selbstorganisation, in: Gestalttherapie 
                1/1989, S. 6. 
                
                
               
                Buchempfehlung zum Thema:  
              Macht 
                und Psychotherapie. Ein Dialog  
              Gerhard 
                Heik Portele, Kirsten Roessler  
               
                 
                   
                    "Macht 
                      ist eine Metapher!"  
                    "Macht 
                      liegt in den Strukturen!"  
                    "Es 
                      gibt eine machtfreie Therapie!"  
                    "Nein, 
                      Therapie gehört zum Machtdiskurs!"  
                   
                 
               
              
              Die 
                beiden Verfasser sind sich nicht einig. Kirsten Roessler vertritt 
                in Anlehnung an Foucault die These, daß Macht strukturell und 
                auch im therapeutischen Diskurs vorhanden ist. Macht wirke als 
                Normierungs- und Normalisierungsdispositiv produktiv und subjekterzeugend. 
                Gerhard (Heik) Portele vertritt die These, daß die Gestalttherapie 
                als eine Selbstorganisationstheorie und damit Autonomietheorie 
                mit einem anarchistischen Anspruch auftritt, der diese strukturelle 
                Macht und Herrschaft und vor allem die Herrschaft über sich selbst 
                ("Selbstbeherrschung") aufheben will. Er geht von Batesons 
                Hinweis aus, daß Macht eine "Metapher" sei, und von der These 
                Maturanas, daß Gehorsam Macht gewährt.  
              Heik 
                Portele und Kirsten Roessler entwickeln zunächst ihre unterschiedlichen 
                Sichtweisen der Macht und der Psychotherapie und treten im zweiten 
                Teil des Buches in Form eines Briefwechsels in Dialog miteinander. 
                 
              (Info 
                des Umschlagtextes; v. Rolf Merten)  
                
                
                
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