Ein Löwe geriet in Gefangenschaft und wurde in ein Lager gebracht, wo er zu seinem Erstaunen noch andere Löwen antraf, die schon jahrelang dort waren, einige sogar ihr ganzes Leben, denn sie waren dort geboren. Er lernte bald die sozialen Betätigungen der Lagerlöwen kennen. Fast alle schlossen sich in Gruppen zusammen. Eine Gruppe bestand aus den Gesellschaftslöwen, die schauten, dass das Leben Spaß machte. Eine andere Gruppe war im Showgeschäft – sie versuchten sich gegenseitig zu imponieren; wieder eine andere betätigte sich kulturell, um die Bräuche, die Traditionen und die Geschichte jener Zeiten zu bewahren, als die Löwen in Freiheit lebten. Andere Gruppen waren visionär gestimmt, sie kamen zusammen, um zu Herzen gehende Lieder zu singen von einem künftigen Dschungel ohne Zäune. Es gab auch eine revolutionäre Gruppe, die traf sich, um sich gegen ihre Wärter zu verschwören oder gegen andere revolutionäre Gruppen Pläne zu schmieden. Ab und zu brach eine Revolte aus, einige Gruppen wurden dabei ausgelöscht oder alle Wärter wurden umgebracht und durch andere ersetzt.
Wie sich der Neuankömmling so umsah, bemerkte er schließlich einen Löwen, der stets tief in Gedanken versunken schien, ein Einzelgänger, der keiner Gruppe angehörte. Er hielt sich meistens von allen fern. Es war etwas Seltsames um ihn, das sowohl die Bewunderung der anderen hervorrief, aber auch ihre Feindseligkeit, denn seine Gegenwart erzeugte Angst und Selbstzweifel. Er sagte zu dem Neuankömmling:
„Schließ dich keiner Gruppe an. Diese armen Narren kümmern sich um alles, bloß nicht um das Wesentliche“.
„Und was ist das Wesentliche?“ fragt der Neuankömmling.
„Das Wesentliche“, sagte der Löwe, „ist, über die Art des Zaunes nachzudenken.“
Quelle: Hypno-Fortbildung 2012
Ausdruck als Geschichten-Postkarte