Vom Geben und Nehmen

A_View_of_the_Delta

Vor langer Zeit, als die Dinge dieser Welt sich ihres Wesens noch bewusst waren, wandte sich der Nil, der größte Strom Afrikas an Gaia, die Urgöttin und Erdenmutter. Er, der längste Fluss der Erde, war sich seiner Mächtigkeit bewusst und er beklagte sich bei ihr: „Die Welt ist undankbar. Schau, was ich seit Jahrtausenden zuwege bringe: Ich nähre das Land mit meinen jährlichen Überschwemmungen. Sieh dir mein riesiges Delta an und welche Fruchtbarkeit und Pracht ich erschaffe. Ohne mich wäre dort nur Wüste und öde Landschaft. Seit Anbeginn der Zeit haben die Menschen an meinen Ufern gesiedelt und Hochkulturen errichtet. Und doch erhalte ich nie ein Wort des Dankes für all mein Wasser mit dem ich die Menschen, die Tiere und den Boden ernähre.“

„Ja, das ist wohl war“, sprach Gaia mit gütiger Stimme. „Ich sehe, die Früchte deines ständigen Strömens sind in der Tat grenzenlos. Kaum jemand vermag solche Fruchtbarkeit hervorzubringen, wie du.“

Der Nil freute sich über die Anerkennung, die Gaia ihm entgegenbrachte, aber sie war noch nicht zu Ende mit ihrer Rede. „Ich verstehe, dass es bitter ist, nie Dank zu erhalten, aber – wie steht es mit deiner Dankbarkeit?“

Der Nil schaute überrascht.

„Hast du dich je, „fuhr Gaia fort, „bei deinen Zuflüssen bedankt, die dich ständig nähren? Bei den Seen, die hoch oben im Lande das Regenwasser sammeln und an dich weitergeben? Bist du dir deiner Quellen bewusst, ohne die du nie so großzügig schenken könntest? Wie ein Baumstamm bist du, groß und stark, und wie bei Dir entspringen aus einem Baum Äste, die sich wieder verzweigen und die Blüten und Früchte hervor bringen. Aber all eure Größe beruht auf der Stärke eurer Wurzeln, die unerkannt im Verborgenen ruhen und euch täglich nähren. Nichts wäre der Baum, ohne den Wind, der ihm Nahrung bringt und auch du könntest nicht existieren, wenn Regen und Quellen dich nicht täglich nähren würden.“

Der Nil hörte stumm Gaias Rede und seine Selbstgerechtigkeit und Verbitterung wich einer Nachdenklichkeit und Beschämung.

Gaia sah, dass seine Stimmung sich wandelte. „Gräme dich nicht, dass du dich bisher so wenig dankbar gegenüber deinen Wurzeln gezeigt hast,“ beruhigte ihn Gaia. „So ist der Lauf der Welt und der Dinge. Wir schauen alle eher nach vorn als zurück. Aber lass diese Erkenntnis dir zum Trost gereichen, dass auch die, für die du dich unablässig und so großzügig verströmst, dir so wenig danken. Ebenso wie du schauen sie eher auf das, was sie bewirken, als auf das, was sie dabei nährt. Und doch sind wir alle ein einziger großer Organismus, ein einziges, vielfältiges Wesen, und jedes kleinste Teilchen trägt das seine dazu bei, dass wir leben und gedeihen. Also ströme weiter und sei dir gewiss, dass ich deine Geschenke sehe und ehre und achte.“                                                        (miro)

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